Musikalische „Sehnsüchteleien” von Paul Lincke, Peter Igelhoff, Franz Grothe und anderen

Warum hat die Adelheid keinen Abend für mich Zeit?

Salonorchester Cappuccino

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Bremen Radiohall Records
erschienen in: das Orchester 06/2020 , Seite 72

Neben der Musikalischen Komödie ist es vor allem das Salonorchester Cappuccino, welches die Musikstadt Leipzig auf die gehobene Unterhaltungsmusik eingeschworen hat und dadurch zu einer vertrauten wie geliebten Institution wurde. Seit 25 Jahren lädt das vor 31 Jahren, während der allerletzten akademischen Roten Woche, gegründete Ensemble zu seiner Reihe „Das gibt’s nur einmal“, davon 20 Jahre im Gewandhaus.
Und es kultiviert einen einzigartigen Klang: innig, salopp, schmelzend und bei angemessenen Stellen einen kleinen Kick gröber – immer aber mit in diesem raren Genre noch selteneren künstlerischen Ernst. Dieser zeigt sich auch in der Programmgestaltung. Auf der neuesten CD reicht die Auswahl vom Walzer über Charakterstücke und Schlager bis zu Jacques Renées Stummfilmszene Erotik. Bekenntnishaft steht als Track 1 ein Heiterer Auftakt von Alo Koll, der in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR dort mit einem eigenen Tanzorchester reüssierte, später an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar Leiter der Abteilung Tanz- und Unterhaltungsmusik war und 1982 in den Westen ging. Manchmal stimmen die Musiker, wenn erforderlich, in den Refrain ein, wie z. B. bei Helmut Niers Eis, Eis, Eis. In Franz Grothes So schön wie heut’, so müsst es bleiben schmelzen die Geigen, hält sich das Saxofon lockend im Hintergrund und schmeichelt die Posaune im Piano. Als Experte für historische Aufführungspraxis des Barock weiß Spiritus rector und Geiger Albrecht Winter, dass musikalische Zaubereien vor allem aus lockenden Halbwahrheiten bestehen. Es hat deshalb auch gar keine zu schwergewichtige Bedeutung für ihn, wenn die Adelheid keine Zeit hat. Egal, ob der Tango Heimweh kennt kein Zigeuner von Alphons Czibulka oder Erich Sendels Walzer Wolkenspiele: Es gehört zu guter Salonmusik, dass sie Originalkompositionen in Wechselbädern flüchtiger Stimmungen paddeln lässt, tönendes Lächeln auf einmal leicht melancholischen Flor bekommt oder echt orgiastische Entfesselung zu Melodienseligkeit auf halber Temperaturstufe verharmlost wird. Einen so richtig rauschhaften Csárdás oder Cancan bekommt man deshalb nicht zu hören vom Salonorchester Cappuccino, das sich hier ganz bunt von Hans Zanders Violinsolo Die goldene Geige bis zu Cole Porters Night and Day einen Mix mit kleinen, feinen internationalen Spitzen liefert. Ganz ohne Verführungsoffensive agieren die Musiker und mit einer bewusst bodenständigen Haltung, in der leidenschaftliches Fernweh keinerlei Suchtfaktor entwickelt, sondern als flüchtige Sehnsüchtelei ganz schnell überwunden wird. Auch Paul Linckes Glühwürmchen-Idyll bleibt deshalb weitgehend lockungs- und geheimnisfrei bei hoher Präzision und großer Liebe zu jenem nostalgiebehafteten und leicht trockenen Klang, der das Alleinstellungsmerkmal des Salonorchesters Cappuccino ist.
Roland Dippel